Samstag, 18. Oktober 2014

Man gewöhnt sich ....



...an (fast) alles. Ich ertappe  mich noch gelegentlich dabei, den  ruppigen Verkehrsteilnehmer einen Idioten zu schimpfen. Nicht nur dass er deutsche Schimpfwörter nicht versteht, nein ihm oder ihr würde jedes Verständnis für so ein gänzlich befremdliches Verhalten fehlen. Man regt sich im Straßenverkehr einfach nicht auf. Das schont die Nerven und hält den Verkehr flüssig - in jede Richtung. Davon gab es ja schon eine Kostprobe im letzten Blogeintrag. Selbst wenn das übliche Warnhupen in ein BÖÖP-BÖÖP-jetzt-komme-ich übergeht - niemand nimmt die geringste Notiz davon. Diese sehr asiatisch anmutende Gelassenheit steht in scharfem Kontrast zum  Verkehrsgewusele, in das ich mich fast jeden Morgen mit meinem Klapprad (interessante materialsparende Konstruktion - einarmige Gabel) stürze. Dabei lernt man am Rande auch etwas über das Leben im Lande. Um kurz nach sieben ist vor den Schulen die Hölle los. Die bekannte (Un-) Sitte, dass Schüler bis in die hohen Klassen von Mama oder Papa zur Schule kutschiert werden, ist auch in Vietnam verbreitet. Einziger Unterschied: die Eltern fahren mit dem Moped oder dem Roller vor. Besondere Vorsicht ist geboten: Die motorisierten Zweiräder schießen von links, rechts, oben, unten an dem anfangs konsternierten, mittlerweile meist gelassenen Radfahrer vorbei.  Nach acht Uhr ist es  merklich ruhiger, denn auch der Berufsverkehr hat gegen sieben seinen Höhepunkt, danach wieder zwischen 17 und 18 Uhr. Nein, den 10-Stunden Arbeitstag gibt es nur für die wirklich Armen, die von früh bis spät mit klapprigem Fahrrad beladen mit wahlweise Obst, Geschirr, Haushaltswaren, Luftballons und ich-weiß-nicht-was durch die Straßen fahren, oft mit einem kleinen Lautsprecher, der die Waren anpreist. Das schont die Stimme.  Der Arbeitstag wird für jeden Vietnamnesen selbstverständlich durch die ausgiebige Mittagspause, vor allem den Mittagsschlaf unterbrochen.
Währenddessen schlafen auch die Roller und Räder sanft dem Feierabend entgegen. Eine große Parkgarage vollgepackt mit Zweirädern - vermutlich sind in Berlin nicht so viele Roller und Mopeds zugelassen, wie hier in der Parkgarage des FPT Konzerns dem Abend entgegenschlummern. Auch wenn die Gehwege der Innenstadt mittlerweile ganz den geparkten Rollern vorbehalten sind - eigentlich ist das strikt verboten. Als ich mein Fahrrad vor einem großen Kaufhaus ganz naiv an einen Baum anschließen wollte, wurde ich energisch in die Parkgarage verwiesen - nur für Zweiräder wohlgemerkt, ähnliche Ausmaße wie im FPT-Hochhaus.

Zurück zum  Verkehr: manchmal reagiere ich noch etwas panisch, wenn mir ein Zweirad - in Ausnahmefällen auch ein Auto - auf meiner Spur entgegenkommt. Seit ich selbst solche Abkürzungen nehme, hält sich der Schrecken aber in Grenzen. Der Grund für diese Verhalten, das im Flensburger Katalog nicht mal Erwähnung finden dürfte, weil es in Deutschland ganz unvorstellbar ist, ist ganz einfach: breite Mittelstreifen auf vielen Straßen und keine Berliner U-turns direkt vor einer Kreuzung. Auch erscheint es dem an viele Regeln gewöhnten Deutschen  immer noch äußerst rücksichtslos, wenn sich das Einbiegen in eine Vorfahrtstraße ohne einen einzigen Blick nach links vollzieht. Man fädelt sich geschickt - dazu braucht man eine hohe Geschwindigkeit - und ohne den fließenden Verkehr zu beachten in den Strom ein. Vorfahrtstraße? Ich habe vor einigen Tagen versucht, ein Gespräch über Verkehrsregeln zu führen. Ja, es gäbe wohl welche, aber da sie kaum jemand kenne, könne man auch nicht erwarten, dass sie befolgt werden. Einziges NoGo: die rote Ampel in der Hauptverkehrszeit. Ich habe doch tatsächlich bereits beobachtet, dass jemand hinter einer Ampelkreuzung von der Verkehrspolizei (ja, die gibt es) gestoppt wurde. Die Strafe hätte sich der Delinquent ersparen können: über den Bürgersteig brausen und den Zebrastreifen mit dem Roller nutzen ist Gewohnheitsrecht.

Von der hübschen vietnamnesischen Damenwelt ist im Verkehr allerdings wenig zu sehen, gleich bei welchem Wetter. Sie sind vermummt als ginge es zum Ebola-Einsatz. Ob es die Furcht vor der Sonnenbräune oder dem Großstadtdreck ist, weiß ich nicht. Vermutlich beides. Zu sehen sind nur das Handy am Ohr und  die zierlichen Stöckelschuhe, für die man in Zentraleuropa bereits einen Waffenschein braucht.

Insgesamt habe ich mich  voll dem Verkehr angepasst. Immer eine Hand an der Bremse, nie die Umgebung bewundern sondern immer nur die anderen  Verkehrsteilnehmer; so gelangt man ganz entspannt und doch hochkonzentriert ans Ziel. Gelegentlich ertappe ich mich dabei, den chaotischen Verkehr effektiver zu finden, als den bis ins Kleinste geregelten Verkehr in Deutschland. Alle fahren aufmerksam, sonst hat man schon verloren. Bei uns verlässt man sich auf die Regeln, die werden schon alles regeln.  Da kann man ruhig einmal eine kleine schöpferische Aufmerksamkeitspause einlegen. Aber die Zahl der Verkehrsopfer spricht dagegen. Vietnam ist eines der Länder mit der relativ höchsten Zahl an Verkehrstoten. Das könnte aber auch an der mangelhaften Ersten Hilfe liegen. Ein Deutscher - ausgebildeter Rettungssanitäter - wurde neulich Zeuge eines Unfalls. Ein Frau war beim Überqueren der Fahrbahn angefahren worden und lag regungslos am Boden. Zwei Männer richteten die Frau auf und schüttelten sie ordentlich durch. Na, geht's wieder?  Stabile Seitenlage? Mögliche Wirbelsäulenverletzung? Nie gehört.
Also doch besser kein Unfall.

 Dennoch: ich habe mich viel besser an den Verkehr ohne Regeln gewöhnt, als ich das befürchtet hatte. Woran ich mich nicht gewöhnen werde, ist die eine oder andere Speise in Vietnam. Insgesamt ist die Küche schmackhaft und abwechslungsreich. Auf den Braten, den ich gestern auf einem lokalen Markt gesichtet habe, werde ich aber ganz sicher verzichten....

Freitag, 10. Oktober 2014

Draußen vor dem Tor...




... befindet sich die Uni. (Ob es sich wirklich um eine Universität handelt sei  dahin gestellt. In jedem Fall gehört auch eine Highschool dazu). Jeden Morgen werden die Teacher - dazu gehöre ich an zwei Tagen in der Woche auch - mit einem sehr komfortablen und vor allen Dingen klimatisierten Bus hin und her kutschiert. Leider ist schon um Punkt 7:30 Abmarsch. Da erreicht der Verkehr gerade einen ersten Höhepunkt, aber ein Bus bahnt sich leichter den Weg als ein Fahrrad, es sei denn er ist  mal wieder im Gewühl eingeklemmt - wie auf dem kleinen Video, das die erste Kreuzung der Strecke nach Hoa Lac zeigt. So heißt der Standort der Bildungseinrichtung. Die Fahrt führt auf einer 6-spurigen Autobahn 30 km nach Westen, und man glaubt es kaum: mit mehr als mäßigem Verkehr. Alle Zweiräder sind auf eine parallel verlaufende Landstraße verbannt. Die Autobahn ist bestens gepflegt, zumindest der etwa 15 m breite Grünstreifen mit blühenden Sträuchern im Abstand von 5 m bepflanzt. Da werden weder Kosten noch Mühen gescheut, das Grün in tadellosem Zustand zu halten, die Büsche gleichmäßig kugelig zu schneiden, die Grünfläche sorgfältig zu mähen und in Handarbeit vom Unkraut zu befreien. Die Kosten halten sich wohl in Grenzen, denn die vielen Frauen, die täglich auf dem Mittelstreifen unterwegs sind, sehen nicht so aus, als gehörten sie zu den Besserverdienern. Ein paar Männer gibt es übrigens auch, die dürfen die (Motor-) Sense schwingen.
Nach 40 Minuten rollt der Bus dann auf das weitläufige Gelände der Uni, das umgeben ist von grünen Wiesen und kleinen Teichen. Fast eine Idylle. Bei genauem Hinsehen fällt einem allerdings auf, dass die sozialistische Planwirtschaft doch noch gelegentlich zuschlägt. Die eigentlich Zufahrtsstraße ist breit und auch für die  Fußgänger sehr komfortabel. Der Bürgersteig ist aufwendig gepflastert, nur schade, dass niemand ihn benutzt. Aber das ist auch besser so. Erst vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass es beim Bau offenbar einen Mangel an Gullideckeln gab. Jedenfalls gähnt alle 20m auf dem Fußweg ein tiefes Loch. Ob schon Studenten und Studentinnen, etwa beim abendlichen romantischen Spaziergang vor den Toren des Campus, verschwunden sind, entzieht sich meiner Kenntnis.
Zurück zum Campus: der kann sich sehen lassen. Die meisten Gebäude sind zwar Wohnheime, aber auch die sind wie das Hauptgebäude wirklich schön gestaltet. Daneben gibt es jede Menge Gelegenheit zum Sport. Was sollen 6000 Studenten auch sonst mitten in der Prärie machen? In den nächsten Jahren werden weitere Unis und Technologieunternehmen hierher ziehen (einige große Internetfirmen sind jetzt schon da), aber derzeit sieht es mit dem Freitzeitvergnügen eher mau aus. Dass dafür zum Ausgleich intensiv studiert wird, kann ich nicht bestätigen. Dabei nehme ich die Teilnehmer eines Seminars aus, die sich kenntnisreich und mit großem Engagement mit forschungsnahen Themen beschäftigen. Aber mühsam ist es dennoch, denn das englisch sprechen fällt den meisten extrem schwer. Noch schwerer wird es, wenn ein Großteil der Studenten auch sonst etwas limitiert ist, wie das bei meiner Vorlesung der Fall zu sein scheint. So recht weiß man nie: liegt es an der Sprache, dem begrenzten Horizont der Studenten oder der Qualität des Dozenten? Da sich alles in Schulklassengröße abspielt, wäre ein interaktives Lernen ja nicht so schlecht. Aber was macht man, wenn  - aus welchen Gründen auch immer - nur von ganz wenigen eine Reaktion kommt? Es gebe Schüler erfuhr ich jüngst, die trotz 7 Jahre Englischunterrichts in der Schule praktisch kein Wort sprechen könnten. Das Sprachproblem habe ich gründlich unterschätzt.
Der Umgang mit den Studis scheint alle Teacher zu ermüden. Es gibt nämlich     neben dem Lehrerzimmer einen Ruheraum mit weichen Bänken, auf denen man sich hemmungslos dem Powernap hingibt. Mittlerweile habe ich aber gemerkt, dass der Mittagsschlaf in Vietnam auch bei den Anderen eine Institution ist. Im Labor wird nach dem Mittagessen für eine halbe Stunde das Licht gelöscht und überall wird geschlafen, notfalls mit dem Kopf auf dem Minischreibtisch. Der beste Platz ist die Couchgarnitur für Besucher.

Aber zurück zum Campus in Hoa Lac:
Den Grund für das große Gefälle zwischen den Hörern (Hörerinnen habe ich nicht!) der beiden Veranstaltungen habe ich mittlerweile herausgefunden: die einen - Studiengang Computer Science - werden handverlesen, die anderen - Studiengang Softwaretechnik - erfüllen da Mindestkriterium: sie können die Studiengebühren zahlen. Sonst würde die Uni bei etwa 400 zu bezahlenden "Teachern" - die genaue Zahl konnte mir niemand nennen - wohl auch kaum  Gewinn machen.   Mal ganz im Ernst: Bildung ist hier in Vietnam ein lukrativer Markt.  Das wurde mir erst jüngst von einer Englischlehrerin (ja, gibt es hier auch) bestätigt. In den staatlichen Universitäten seinen die Studiengebühren zwar erheblich geringer, aber gezahlt werden müsse überall. Was dazu wohl Onkel Ho sagen würde....
Das erinnert doch stark an China. Universitäten gibt es hier wie Sand am Meer. Das hat aber weniger damit zu tun, dass sie gewinnträchtige Investitionen wären, sondern damit, dass praktisch jeder Fachbereich eine eigenständige Universität ist. Und wie schön: sie scheinen sich auch hier zur  Keimzelle gesellschaftlichen Wandels zu entwickeln. Beim Mittagessen auf der Terrasse des FPT-Gebäudes (mit wunderschöner Aussicht) erzählte mir jemand, seine Uni habe eben einen neuen Präsidenten gewählt, der kein Parteigenosse ist - bisher das allerwichtigste Qualifikationskriterium.